Gestern und heute -

das war früher ganz anders, höre ich andere und mich selbst des Öfteren sagen. Erst kürzlich las ich vom früheren DDR-Bürgerrechtler und Wissenschaftler Jens Reich in der Berliner Zeitung, er fühlte sich wieder wie eine „wandelnde Säule“, als er über den Alex ging, kein Blickkontakt zum Mit-Passanten. Die Stimmung der Leute 1989 sei ganz anders gewesen, sie waren neugierig, wollten einander und die Welt kennenlernen. Wo ist der Elan geblieben, fragen wir uns. Sind unsere Erwartungen vielleicht überzogen? Bieten die demokratischen Verhältnisse heute genug Raum, um Unzufriedenheit öffentlich und damit sichtbar zu machen? Sind die meisten vielleicht einfach zufrieden mit dem, was sie haben und wie sie leben? Wenn zwei Gewerkschaften um Mitglieder konkurrieren und deshalb streiken, regt das die Menschen auf! Aber wer setzt sich dafür ein, dass die Pflegekräfte endlich besser bezahlt werden? Dass die Marktwirtschaft mit ihrem Wachstums- und Profitstreben zu viele Menschen weltweit ausgrenzt und benachteiligt, wird für all jene immer deutlicher, die über ihren eigenen Tellerrand hinausblicken. Wer traut sich jedoch, neue Visionen für zukünftige Gesellschafsmodelle zu entwerfen? Sie erwidern, davon ist weit und breit nichts zu sehen. Ich meine jedoch, dass es durchaus Ansätze dafür gibt. Führen Sie nur einmal in Ihrem Freundeskreis eine Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen. Das setzt voraus, dass Sie sich darüber erst einmal selbst ins Bild setzen, in der heutigen Zeit kein Problem! Und es setzt die Breitschaft aller Beteiligten voraus, sich offen dieses Themas anzunehmen. Schnell werden Sie merken, dass es zu heißen Debatten kommt. Solche Debatten anzuregen und sie zu führen, ist unser aller Aufgabe. Dies „denen da oben“ zu überlassen, führt uns zurück ins Gestern. Nur wenn wir uns einmischen und wenn Gleichgesinnte gemeinsam Veränderung suchen, werden aus den gesichtslos „wandelnden Säulen“ immer mehr selbstbewusste und engagierte Bürger, die den aufrechten Gang nicht verlernt haben.